Multi-Stakeholder Deliberation als Chance für Gemeinwohl und demokratischen Grundkonsens

Prof. Dr. Gesine Schwan über die demokratietheoretische und demokratiepolitische Funktion von Kommunale Entwicklungsbeiräten im Unterschied zu Bürgerräten

Berlin Governance Platform-Präsidentin Gesine Schwan stellt hier die Unterschiede zwischen Bürgerräten und den durch die Platform entwickelten Kommunalen Entwicklungsbeiräten (KEBs) heraus. Kritisch beleuchtet sie die Limitationen losbasierter Beteiligungsformate und hebt die Vorzüge der Multi-Stakeholder-Zusammensetzung der KEBs hervor. Mit einem klaren Fokus auf konstruktiven Dialog, Gemeinwohlorientierung und der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bieten die KEBs eine vielversprechende Antwort auf die aktuellen Herausforderungen unserer Demokratie.

Demnächst veröffentlicht in einem Doppelheft der INDES.Zeitschrift für Politik und Gesellschaft mit dem Titel „Demokratie unter Druck“.

I. Demokratien weltweit unter Druck

Die freiheitlichen Demokratien stehen weltweit unter Druck. Ihre Unterstützung aus der Gesellschaft nimmt deutlich ab.  In Europa wie in den USA werden rechtsextreme demokratiefeindliche Parteien und Initiativen immer stärker, die ihren Fortbestand bedrohen.

Dafür gibt es vielfältige Ursachen. Vor dem Hintergrund erheblich zugenommener Gegensätze zwischen arm und reich sind hier besonders Ohnmachtserfahrungen vieler Bürgerinnen und Bürger zu nennen, die aus dem rapiden sozialen Wandel rühren, dem sie sich nicht mehr gewachsen fühlen. In seinem neuen Buch „Triggerpunkte“ (Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuer: Triggerpunkte. Konflikt und Konsens in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin Suhrkamp 2023) bringt Steffen Mau diesen Befund so auf den Begriff: Von vielen Bürgern werde der schnelle soziale Wandel als „verohnmächtigende Zumutung“ (347) erfahren.

Dazu trägt auch eine Entwicklung der Demokratie bei, in der viele Bürgerinnen und Bürger nicht genügend Möglichkeiten sehen, bei den politischen Entscheidungen über ihren Alltag mitzuwirken. Sie fühlen sich von ihnen überrollt. Die politische Komplexität und die Interdependenzen, die über die Grenzen ihrer Kommune und ihres Staates weit hinausgehen und globale Dimensionen angenommen haben, überfordern sie. Dadurch werden sie anfällig für die antidemokratischen Vorstöße der Rechtsextremen.

Um gegen die Enttäuschungen in der Demokratie und über sie anzugehen, haben sich vor allem auf der Ebene der Kommunen neue Formen der politischen Beteiligung entwickelt, die in der Regel auf Informationen und Konsultationen zielen und auf die Möglichkeit, Bürgerinnen und Bürgern neue Erfahrungen der politischen Selbstwirksamkeit zu bieten. Die bekanntesten von Ihnen sind die insbesondere aus Irland inspirierten „Bürgerräte“.

II. Bürgerräte

Bürgerräte verstehen sich als Räte, in denen Bürgerinnen und Bürger, die per Losverfahren ermittelt worden sind, mit Hilfe von Moderatoren und Sachverständigen auf umstrittene politische Fragen gemeinsam vernünftige Antworten erarbeiten. Der Weg dahin geht über eine „Deliberation“, in der die unterschiedlichen politischen Vorschläge durch Begründung und Argumentation daraufhin geprüft werden, ob sie von anderen akzeptiert werden können – ob sie „verallgemeinerungsfähig“ (Habermas) sind – oder ob zumindest Kompromisse über sie ausgehandelt werden können. 

Das Losverfahren macht Bürgerräte für viele attraktiv, weil „jedermann“ an ihnen teilnehmen kann. Überdies zielen sie darauf, eine größere soziale Repräsentativität vorzuweisen als gewählte Parlamente. Ob diese Erwartung eingelöst wird, ist fraglich. Das Los allein führt nicht zur gesellschaftlichen Repräsentativität, die sich nicht von selbst versteht, sondern sich anhand eines soziologisch- theoretisch begründeten Models ausweisen muss.

De facto haben die Autoren der Bürgerräte bei der Auswahl zum Bürgerrat ihre eigenen Kategorien der sozialen Repräsentativität im Kopf – neben der räumlichen Verteilung die Merkmale: Geschlecht, Altersgruppe, Bildungsstand und Migrationshintergrund -, nach denen sie bei der konkreten Zusammensetzung der Bürgerräte in Modifikation des Losverfahrens die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aussuchen.  Konfessionszugehörigkeit, Unterschiede Stadt/Land, Berufsstand (selbständig/unselbständig) bleiben dabei z.B. außen vor. So meinen die Bürgerräte – in ihrer Modellvorstellung – anders als Parlamente einen „Mini Public“, also Deutschland im Kleinen zu erreichen und treten damit in einen Legitimationswettbewerb mit den Parlamenten.

Aus Bürgerräten mit ca. 160 Mitgliedern gehen in Deutschland z.Z.  Vorschläge zu einzelnen ausgewählten Problemen hervor.  Die Räte lösen sich danach wieder auf, sie sind nicht als dauerhafte Institutionen gedacht. Die Bemühung geht dahin, die erarbeiteten Vorschläge in den politischen Entscheidungsprozess zu überführen, z.B. dadurch, dass Parlamente (z.Z. auch der Deutsche Bundestag)  die Vorschläge (z.B. zur gesunden Ernährung) diskutieren und in politische Entscheidungen transformieren. Dabei geht es in der Regel um konkrete Einzelvorschläge, nicht um langfristige Prioritäten oder Visionen.

Die Bürgerräte schließen von ihrer Entstehung her Lobbygruppen aus der Zusammensetzung und der Erarbeitung der politischen Antworten aus, weil in ihnen die Hauptursache für die Schwächung und Diskreditierung der Demokratie gesehen wird. Denn weil sie auf partikulare Interessen ausgerichtet seien und vor allem mit sehr unterschiedlichen Machtpotenzialen einhergingen, komme es in den repräsentativen Demokratien – in Regierungen und Parlamenten – durch sie zu Machtungleichgewichten. Das verhindere vernünftige, gerechte und also gemeinwohlorientierte politische Lösungen.  Individuelle Bürgerinnen und Bürger dagegen können sich „herrschaftsfrei“ vernünftig verständigen.

IIII. Demokratietheoretische Einschätzung der Bürgerräte

„Bürgerräte“ haben in den letzten Jahren viel Zuspruch erhalten und Öffentlichkeit gewonnen. Sie haben neues Interesse an der Demokratie geweckt und Beteiligungswege eröffnet. Sie ermöglichen wegen des Losverfahrens auch Bürgern, die sich politisch vordem nicht beteiligt haben, als Teilnehmer lehrreiche Erfahrungen mit politischen Herausforderungen und Debatten über Lösungen zu machen und bringen ihnen die Demokratie näher. Sie bieten ihnen auch wichtige Selbstwirksamkeitserfahrungen Und sie erweitern die Palette vernünftiger Antworten. Das ist viel.

Weil die Mitglieder nicht gewählt sind, müssen sie sich allerdings nicht für Ihre Vorschläge gegenüber den konkreten Interessen der Bürgerinnen und Bürger verantworten. Sie überlegen „freischwebend“ und haben keine Konsequenzen zu gewärtigen. Damit kann eine vergleichsweise „harmlose“ „Seminaratmosphäre“ zum Idealbild von Politik werden, vor dem reale Politik umso leichter defizitär wirkt und delegitimiert wird, als sie sich mit den konkreten pluralistischen Interessengruppen auseinandersetzen muss. Warum machen sie es im Parlament nicht genauso vernünftig wie wir im Bürgerrat? Sollte das Parlament vielleicht auch Lobby-Gruppen verbieten? Das träfe allerdings die pluralistische Gesellschaft und Demokratie ins Mark.

Dazu kommt die latente Gefahr, eine Legitimationskonkurrenz zu den gewählten Parlamenten aufzubauen, weil das Losverfahren zu Unrecht suggeriert, dass es per se zu einer sozial repräsentativeren Zusammensetzung der Bürgerräte führt.

Vor allem aber geben Bürgerräte die Situation politischer Beratung und Aushandlung nicht realistisch wieder, weil sie die Machtdimension in der pluralistischen Gesellschaft und Demokratie ausblenden und nur auf die Vernunft der Individuen rekurrieren. Diese ist in der freiheitlichen (liberalen) Demokratie vor allem normativ wichtig, muss sich aber mit der Realität der zugespitzten empirischen Interessenkonflikte  und ungleichen Machtpotenziale  dahinter konfrontieren.

Ihr demokratietheoretisches und -politisches Hauptdefizit liegt deshalb darin, dass sie von ihrem Ansatz her keine politische und institutionelle Antwort auf die zentrale Glaubwürdigkeitsherausforderung unserer liberalen pluralistischen Demokratien bieten. Die liegt darin, dass moderne Gesellschaften nicht aus einzelnen vernünftigen Individuen (oder Honoratioren des 18 Jahrhunderts, in der die liberale Demokratie entstanden ist) bestehen, sondern spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus legalen und legitimen pluralistischen Interessengruppen (den Lobbys). Die versuchen als Gruppen auf vielen Wegen, ihre Ziele erfolgreich in die politische Arena und den Entscheidungsprozess zu einzuspeisen.

Auf die Gruppenbildung durch Vereinigungsfreiheit waren im 19. Jahrhundert gerade unterprivilegierte Klassen bzw. Schichten angewiesen. Die Vereinigungsfreiheit hat z.B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den individualistischen „Altliberalismus“ den Gewerkschaften erst die Möglichkeit geboten, eine Gegenmacht gegen Arbeitgebervereinbarungen zu bilden (die beim privaten Abendessen getroffen werden konnten). Auch das Eintreten für eine menschliche Migrationspolitik, für eine partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit oder gegen Armut im Globalen Süden braucht z.B. solche Lobbys.

IV. Die Herausforderungen im Ernstfall pluralistischer Demokratie

Der Ernstfall von demokratischer Politik in der pluralistischen Gesellschaft und die Herausforderung ihrer Glaubwürdigkeit liegen deshalb in der – oft intransparenten – Auseinandersetzung zwischen den pluralen Gruppen im vorparlamentarischen Raum um den Einfluss auf die Politik. Denn wegen der ganz unterschiedlichen Machtpotenziale haben sie ungleiche Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Das unterminiert das Gleichheitsversprechen der Demokratie, nach dem allen Menschen eine gleiche Würde zukommt, weshalb sie eine gleiche Chance haben müssen, ihr Leben im Sinne dieser Würde und entsprechend ihren Vorstellungen und Interessen zu führen.

Ernst Fraenkel, der Nestor der Theorie der pluralistischen Demokratie in Deutschland (Deutschland und die westlichen Demokratien, Suhrkamp. Erweiterte Ausgabe (1991). Mit einem Nachwort über Leben und Werk Ernst Fraenkels. Herausgegeben von Alexander v. Brünneck) hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts dieses Problem, das viele Kontroversen ausgelöst hat, bereits ausgiebig behandelt. Seine Erwartung, dass es durch Auseinandersetzungen in der (organisierten) Gesellschaft schließlich in einem „Parallelogramm der Kräfte“ zu gerechten politischen Lösungen kommen werde, wurde immer wieder theoretisch bezweifelt und trifft empirisch heute immer weniger zu. Wenn fünf Arbeitgeberverbände sich bei der Regierung gegen das europäische Lieferkettengesetz wenden, hat das eben Wirkung, auch wenn dieses auf Europäischer Ebene schon  durchverhandelt war. Freilich hat Ernst Fraenkel, der bis zu seiner Emigration 1938 Syndikus bei den Gewerkschaften war, nie angenommen, dass Gerechtigkeit ohne politische Auseinandersetzung von selbst entsteht. Ihm schwebte das Modell der Tarifverhandlungen vor.

Heute, zumal unter den Bedingungen der ökonomischen Globalisierung können Unternehmen sich z.B. häufig demokratischer nationaler Regulierung entziehen. Dadurch erlangen sie eine erhebliche Unabhängigkeit gegenüber demokratischer Politik und anderen Gruppen. Auf diese Weise geht die Voraussetzung einer gerechten demokratischen Politik immer mehr verloren, dass es nämlich in den Gesellschaften ein Machtgleichgewicht der Lobbygruppen gibt, aus dem bei gesellschaftlichen Konflikten ein Grundkonsens über die verbindenden und verbindlichen Werte entstehen kann, der immer erneut durch politische Konflikte hindurch erstritten werden muss. Auf dieser Basis sollen unterschiedliche politische Entscheidungen getroffen werden, die einem Mindestmaß an Gerechtigkeit genügen. Der Grundkonsens hält demokratische pluralistische Gesellschaften zusammen, er bietet eine Haltelinie gegen ihr Auseinanderbrechen, das der Demokratie den Boden entziehen würde.

Ohne einen solchen Grundkonsens verliert demokratische Politik bei zunehmend mehr Bürgerinnen und Bürgern ihre objektive und subjektive Legitimation. Denn sie kann ohne ihn kaum noch gemeinwohlorientierte Lösungen zustande bringen. Die sozialen Ungleichgewichte und Gegensätze sind zu groß. Demokratische Politikerinnen und Politiker sind überfordert, wenn sie nur aus eigener Macht in einer Gesellschaft gerechte politische Entscheidungen treffen sollen, in der Bürgerinnen und Bürger immer mehr annehmen, es reiche aus, sei legitim und eigentliches Zeichen erfolgreicher Politik, vor allem die eigenen Partikularinteressen durchzusetzen. Nicht nur gegenüber den Rechtsextremen, die die Demokratien ablehnen, auch im Verhältnis zwischen Regierung und Opposition tun sich heutzutage, auch infolge der Dominanz machttaktischer Prioritäten, Abgründe auf.

V. Wir brauchen neue „intermediäre“ Institutionen und Verfahren für die Erstreitung von Grundkonsensen - am Beispiel des „Kommunaler Entwicklungsbeirats“

Deshalb brauchen wir Verfahren und Institutionen, die nicht in Konkurrenz zur repräsentativen Demokratie treten, sondern deren Gemeinwohlaufgabe im Gegenteil dadurch stärken, dass sie politische Interessenkonflikte „vorverhandeln“ (Olaf Scholz in einem Interview in DIE ZEIT vom 25. Januar 2024 S.2). Daraus kann ein Grundkonsens zwischen den pluralen Gruppen und den Bürgerinnen und Bürgern der Gesellschaft erwachsen. Die diesbezüglichen Vorfeldorganisationen – neben den Parteien sind das Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie alle möglichen Interessenverbände, Vereine und Bürgerinitiativen – üben diese Funktion der internen Diskussionen und Vorverhandlungen laut Olaf Scholz weniger aus als früher.

Durch eine innovative Reform sollten deshalb ausdrücklich z.B. im Vorfeld wichtiger politischer Entscheidungen solche Diskussionen um einen gesellschaftlichen Grundkonsens organisiert werden. Dazu ist es dienlich, Vertreter gegensätzlicher Interessengruppen im Trialog zwischen legitimierter Politik /Verwaltung, organisierter Zivilgesellschaft und Wirtschaft (Multi-Stakeholder-Zusammensetzung) zu einer vertraulichen Diskussion zusammenzubringen und – in begründender Argumentation, also  deliberativ – einen Grundkonsens (keine Lösung oder Entscheidung im Einzelnen!!) zum jeweiligen Thema erarbeiten zu lassen, auf dessen Basis dann die politisch Legitimierten eine (einigermaßen) gemeinwohlorientierte Entscheidung treffen können.

Nach diesem Prinzip sind „Kommunale Entwicklungsbeiräte“ organisiert. Sie wären deshalb nicht nur eine erweiterte Partizipation unter anderen, sondern eine solche „intermediäre Institution“.

In der Regel versammeln KEB‘s zwischen 30 und 40 Personen, damit sie, ausgehend von einem konkreten Problem, gemeinsam Empfehlungen (nicht Entscheidungen!) für die Entwicklung ihrer Kommune erarbeiten. Dabei kann es sich um die Neugestaltung einer wichtigen Brache, um die Reform des kommunalen, um Daseinsvorsorge z.B. im Gesundheitssektor oder im Wohnungsbau oder um die freiwillige Aufnahme von Migranten handeln. In der Regel beginnt es mit einer konkreten Thematik, bei deren Behandlung sich allerdings bald die „Verwicklungen“ mit anderen kommunalen Aufgaben herausstellen.

Nach dem grundsätzlich positiven Votum von Bürgermeister/Verwaltung und  Stadtverordnetenversammlung stellen OB und der/die Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung eine kleine „Steuerungsgruppe“ (6-8 Personen)  aus den  Stakeholder-Gruppen  Politik/Verwaltung,  organisierte Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammen.  Die beschließt die Zusammensetzung des KEB. Dabei gilt das Prinzip der Kooptation durch die Mitglieder der Steuerungsgruppe, nicht einer Top-Down Entscheidung des OB oder der Stadtverordnetenvorsitzenden. Die Steuerungsgruppe grenzt überdies das genaue Thema ein und die Stadtverordnetenversammlung verabschiedet einen Beschluss zur Beauftragung des KEB mit diesem Thema.

In vier ganztägigen moderierten Sitzungen begründen die unterschiedlichen drei Stakeholder bzw. Interessengruppen aus Politik, organisierter Zivilgesellschaft und Wirtschaft sowie die ausgelosten Bürgerinnen und Bürger ihre Vorstellungen zum Thema sowie deren Begründungen und diskutieren sie untereinander auf ihre Anschlussfähigkeit bzw. ihre „Verallgemeinerbarkeit“ (Habermas) hin. Insbesondere auf der Ebene der Begründungen entstehen so Dimensionen und Bezugspunkte für die in Frage kommende Definition des kommunalen „Gemeinwohls“. Aus ihnen können eine Vision und Kriterien für deren Umsetzung hergeleitet werden. Am Ende verabschiedet der KEB möglichst konsensual Empfehlungen, die dem Oberbürgermeister und dem Stadtrat übergeben werden.

Der KEB wendet also wie die Bürgerräte das deliberative Verfahren an. Er bringt aber, anders als die Bürgerräte, die legitimierten späteren Entscheider (OB/ Verwaltung, Stadträte) und die nicht durch Wahl legitimierten   Interessenverbände/Wirtschaft – und einige ausgeloste Bürgerinnen und Bürger – zusammen. Sie beraten gemeinsam und lernen damit die Logiken der anderen Interessenvertreter genauer kennen.

Der KEB tagt nach der Chatham House Rule: Alle Argumente sollen auf den Tisch, in die Gesellschaft getragen und dort diskutiert werden, aber nicht, welcher Teilnehmer was vorbringt. Das ist wichtig, um die Unabhängigkeit der Teilnehmer von ihren „Ursprungsgruppen“ zu sichern. Mit denen sollen die Teilnehmer aber so ausgiebig wie möglich auch die Zwischenergebnisse diskutieren und die Argumente der Bürgerinnen und Bürger im Laufe des Verfahrens in den KEB zurückbringen. Die in der Stadtgesellschaft real bestehenden Interessenkonflikte werden also nicht einfach der Exekutive oder Legislative werbend vorgetragen, sondern innerhalb der Gesellschaft ausgetragen. Das Ergebnis – obwohl nur eine Empfehlung – hat große Chancen, praktisch umgesetzt zu werden, weil auch  die Entscheider an der Diskussion im KEB beteiligt waren und sich mit dem Ergebnis identifizieren können.

Der KEB bietet die Chance, mehr Bürgerinnen und Bürger an der Vorbereitung der Entscheidungen zu beteiligen als bisher üblich. Er legt die unterschiedlichen Interessen und Voten auf den Tisch und macht sie so transparent. Er erweitert den Reichtum der Perspektiven, die in die Entscheidung eingehen, und nähert sich damit dem Gemeinwohl. Zumindest verhindert diese Art der Diskussion, dass mächtige Einzelinteressen sich einfach hinter verschlossenen Türen durchsetzen.

Durch die begründende Argumentation (Deliberation) führt er die Stadtgesellschaft überdies zusammen, weil er in den Begründungen das Potenzial sowohl an Differenzen als auch an möglichen Übereinstimmungen freilegt. Kompetent und professionell moderiert, in einer Atmosphäre der Fairness, des Wohlwollens und der Wertschätzung bietet er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, aber auch allen in den Prozess involvierten Bürgerinnen und Bürgern die Chance, Selbstwirksamkeit zu erfahren und demokratische Politik auf diese Weise positiv und zu erleben. Vor allem entsteht dadurch erfahrungsgemäß wertvolles Vertrauen zwischen den Teilnehmern, insbesondere zwischen Verwaltung und organisierter Zivilgesellschaft, deren Handlungslogiken zunächst oft sehr konträr zueinander liegen.

Da sich der KEB aus Vertretern von Interessengruppen zusammensetzt lockt er per se nicht Menschen an, die sich von der Politik abgewandt haben. Dazu braucht es vorpolitische Organisationen und „Erprobungsräume“, auch gerade nicht-politische, z.B. sportliche oder kulturelle Initiativen, die Menschen einladen und gegebenenfalls im weiteren Verlauf für Politik interessieren können. Allerdings entsteht durch den KEB und seine weitertragenden Aktivitäten in der Kommune eine transparente Politisierung, die bereits für die weitere Stadtgesellschaft eine motivierende Wirkung ausüben kann, sich politisch zu engagieren.

Schließlich befolgen Kommunale Entwicklungsbeiräte das Gebot der Nachhaltigkeit, weil sie als Institution auf Dauer angelegt sind – wenn auch mit immer wieder neuen personellen Besetzungen, so dass die Entstehung einer abgehobenen „Elite“ vermieden wird. Damit können sie einen Gewöhnungseffekt für mehr Bürgerteilhabe auslösen und einen Erfahrungsschatz ansammeln, der überdies insbesondere die Wirtschaft einbezieht. Auf diese Weise wird es Bottom up auf die Dauer selbstverständlich, dass auch die Wirtschaft für die Rahmenbedingungen ihres Erfolges – insbesondere den sozialen Frieden, die Ausbildung, die Infrastruktur und die sozialstaatliche Daseinsvorsorge, und dies nicht nur in den nördlichen Gesellschaften – verantwortlich ist. Der marktradikale Slogan: „The business of business is business“, der Milton Friedman zugeschrieben wird, reicht in Zeiten der ökonomischen Globalisierung nicht mehr aus.  

VI. Fazit

Bürgerräte sind eine Erweiterung von Bürgerpartizipation, die vielen Bürgern neue Teilhabemöglichkeiten im politischen Willensbildungsprozess eröffnen. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bieten sie vielfältige neue Bildungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen und die Chance, Politik als eine positive Auseinandersetzung zu erleben. Sie erweitern das Repertoire „vernünftiger“ Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen und haben inzwischen eine breite Anhängerschaft gewonnen.

Sie bergen allerdings Enttäuschungspotenzial, wenn ihre Ergebnisse im politischen Entscheidungsprozess nicht aufgenommen werden, wofür es in ihrer Konstruktion keine Anreize gibt. Auch Selbstverpflichtungen der politisch Entscheidenden, sich mit den Ergebnissen zu befassen, können hier keine Gewähr bieten, weil es zuvor keine Diskussionen und Abstimmungen zwischen ihnen und den Bürgerräten gegeben hat.

Als individuell rekrutierte Personen sind sie niemandem Rechenschaft schuldig, nur ihrem Gewissen und ihrer Vernunft verpflichtet. Das macht sie völlig frei, löst aber auch die Verbindung zur Gesellschaft.

Da sie allein auf Bürger als vernünftige Individuen setzen und die Lobbys von Interessengruppen und deren Macht ausdrücklich aus dem Diskussionsprozess heraushalten, blenden Bürgerräte die entscheidende Herausforderung  gegenwärtiger liberaler Demokratien aus und geben auf sie keine systemisch wirksamen Antworten: die Machtungleichgewichte von (pluralen und nicht nur legalen, sondern auch legitimen) Interessengruppen, die sich gegen das Gleichheitsversprechen von demokratischer Politik auswirken. Im Gegenteil impliziert ihre Organisation eine „Verharmlosung“ von Politik, die ein irreführendes Idealbild von Politik suggerieren können, das den Anforderungen der modernen pluralistischen Demokratie nicht gerecht wird.

Kommunale Entwicklungsbeiräte erweitern wie Bürgerräte die Möglichkeiten der Bürgerpartizipation und bieten vielfältige Bildungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen. Diese gehen insofern weiter als in den Bürgerräten, weil die Umsetzung in die politische Praxis durch die institutionelle Gestaltung unterstützt wird und die Enttäuschungsgefahr, für die Schublade gearbeitet zu haben, dadurch erheblich geringer ist. Zugleich wächst die gegenseitige Verständigung zwischen organisierter Zivilgesellschaft und kommunaler Verwaltung.

Da sie sich auf das Multi-Stakeholder Prinzip stützen, d.h. einen Grundkonsens zwischen den Interessengruppen anzielen, unterstützen sie die Gemeinwohlorientierung der politischen Entscheidungen und stärken durch den Verständigungs- und Aushandlungsprozess den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft, die Bürgerräte als ganze nicht erreichen. Damit gehen Kommunale Entwicklungsbeiräte auf der überschaubareren Ebene der Kommune ein zentrales theoretisches und praktisches Problem moderner Demokratien an, das sie in den letzten Jahrzehnten immer mehr delegitimiert hat: Das Ungleichgewicht zwischen starken und schwachen Interessengruppen bzw. Lobbys, das dem Gleichheitsversprechen der Demokratie entgegensteht. 

Anders als die Bürgerräte, die sich über ein – allerdings während der Zusammenstellung mehrfach reguliertes – Losverfahren rekrutieren, sprechen Kommunale Entwicklungsbeiräte nicht Bürgerinnen und Bürger an, die sich von der Politik abgewendet haben. Sie können höchstens durch die Verbreitung der KEB-Diskussionsergebnisse und die damit einhergehende Kommunikation und Politisierung der Stadtgesellschaft indirekt erreicht werden. Sie brauchen Ansprachen über den KEB hinaus.

Anders als Bürgerräte sind KEB’s tendenziell auf dauerhafte Institutionalisierung eingerichtet und entsprechen damit dem Gebot der Nachhaltigkeit.