Kurzanalyse zur EU-Wahl: Wie positionieren sich deutsche Parteien zu Fragen der Verteilung und Aufnahme Schutzsuchender?

Am 9. Juni wählen Menschen in 27 EU-Ländern gemeinsam ein neues Parlament. Aber wie stehen die deutschen Parteien, die im EU-Parlament unterschiedlichen Fraktionen zugehörig sind, zu Fragen der innereuropäischen Solidarität und Verteilung Schutzsuchender? Wir haben sie gefragt.

06. Juni 2024

Am 9. Juni wählen Menschen in 27 EU-Ländern gemeinsam ein neues Parlament – und das bereits zum 10. Mal seit 1979. Die vergangene Legislaturperiode des EU-Parlaments war u. A. von der Verabschiedung einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geprägt. Während in Brüssel Parlamentarier*innen aus 27 EU-Mitgliedstaaten immer wieder um Einigkeit und Zusammenhalt rangen, entwickelten und pilotierten wir an der Berlin Governance Platform (BGP) Ideen dazu, wie europäischen – aber auch kommunalen, nationalen und weltweiten – Herausforderungen mit partizipativen und transparenten Good Governance-Konzepten begegnet werden kann.

Eine dieser Herausforderungen ist die solidarische Verteilung von Schutzsuchenden in der Europäischen Union, an die sich auf nationaler und kommunaler Ebene Aufnahme und Integration anschließen. In unserer Analyse sieht die beschlossene GEAS-Reform in dieser Hinsicht kaum eine Verbesserung der Situation für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen und in der EU vor – vielmehr muss von einer weiteren Verschlechterung ausgegangen werden.  Ob die geplanten innereuropäische Relocations (Umsiedlung zur Verteilung) im Rahmen des Solidaritätsmechanismus zukünftig tatsächlich zu mehr innereuropäischer Solidarität und einer gerechteren Verteilung führen ist fragwürdig. Einen Lösungsbeitrag hierfür bietet unser Projekt „Re:Match – Relocation via Matching“, mit dem wir gemeinsam mit Kommunen ein alternatives – partizipatives, bedarfsorientiertes und individualisiertes – Verfahren zur solidarischen Verteilung Schutzsuchender von EU-Außengrenzstaaten direkt in europäische Kommunen pilotieren.

 

Aber wie stehen die deutschen Parteien, die im EU-Parlament unterschiedlichen Fraktionen zugehörig sind, zu Fragen der innereuropäischen Solidarität und Verteilung Schutzsuchender? Wir haben sie gefragt.

Der folgende Text basiert auf den Europaprogrammen der Parteien und den Wahlprüfsteinen, in denen sie uns folgende Fragen beantwortet haben:

  1. Werden Sie Maßnahmen ergreifen, um Schutzsuchenden und Kommunen konkrete Partizipationsmöglichkeiten in Fragen der Verteilung und Aufnahme von Geflüchteten zu ermöglichen?
  2. Werden Sie sich für ein Algorithmus-basiertes Matching, das Bedarfe und Präferenzen Schutzsuchender direkt mit Kapazitäten und infrastrukturellen Rahmenbedingungen von aufnehmenden Kommunen abgleicht, engagieren?

Zum Zeitpunkt 5.6.2024 haben die CDU/CSU, SPD, Die Linke, Die Grünen/Bündnis 90 unsere Anfrage beantwortet, während die Antwort der FDP ausstehend bleibt.

Im Europawahlprogramm der CDU/CSU (S. 7f) findet sich das Wort Solidarität leider nicht. Menschen, die in der EU Asyl beantragen, will die CDU/CSU in Drittstaaten außerhalb der EU schicken. Hier sollen sie ihr Asylverfahren durchlaufen und Schutz erhalten, wenn dieses positiv beschieden wird. Einzelne Mitgliedstaaten können anschließend im Rahmen einer Koalition der Willigen ein bestimmtes Kontingent schutzbedürftiger Menschen aufnehmen. Den im Grundgesetz, Europarecht und Völkerrecht verankerten Individualanspruch auf Asyl will die CU/CSU damit faktisch abschaffen. Partizipation von Kommunen will die CDU/CSU durch ressortübergreifende Flüchtlingsgipfel und die Einrichtung eines Krisen- und Koordinierungs-Stabs im Kanzleramt fördern. Zur Partizipation von Schutzsuchenden in Fragen der Verteilung äußert sich die CDU/CSU auf unsere Nachfrage hin nicht. Die Abgleichung von Kapazitäten, Erfordernissen und Bedarfen von Kommunen einerseits und Schutzberechtigten andererseits hält die CDU/CSU bei der Verteilung von Schutzberechtigten auf die Kommunen aber grundsätzlich für sinnvoll (Vermerk: Die CDU/CSU spricht hier bewusst von Schutzberechtigten, nicht von Schutzsuchenden).

Die SPD sieht in der beschlossenen Pflicht zur Solidarität aller Mitgliedstaaten* einen großen Schritt mit dem die EU als Ganzes ihrer humanitären Verantwortung nachkommt (S. 34). Dementsprechend will die Partei, dass diese Pflicht fortan durchgesetzt wird. Solidarischen Kommunen möchte sie eine größere Rolle bei der Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen. Als Beispiel führt die SPD dafür die Idee eines europäischen Integrations- und kommunalen Entwicklungsfonds an, durch den Städte und Kommunen, die sich bereit erklären Geflüchtete aufzunehmen, bei den Integrationskosten und zusätzlich in gleicher Höhe bei kommunalen Entwicklungskosten finanziell unterstützt werden sollen – eine Idee, die ursprünglich von uns an der BGP entwickelt wurde. Im Rahmen dieses Fonds sollen Bürger*innen über die Ausgestaltung der Aufnahme von Geflüchteten mitbestimmen können (S. 36). Die SPD unterstreicht aber gleichzeitig, dass die Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten Kompetenz der Mitgliedstaaten bleibt. Ob sich die SPD für ein Matching nach unserem Vorbild einsetzen wird? Dazu schreibt die Partei uns, dass eine verbesserte Koordinierung und Abgleichung der Aufnahmekapazitäten, Infrastruktur und Bedürfnisse von Schutzsuchenden sowohl den aufnehmenden Kommunen als auch den ankommenden Menschen zugutekommen könnte. Für die SPD gilt, dass man dafür, im Rahmen der jeweiligen Kompetenzen auf europäischer, nationaler und kommunaler Ebene, auch die Möglichkeiten von innovativen Projekten wie Re:Match nutzt. Diese Aussage freut uns insbesondere, weil in unserer Anfrage kein namentlicher Bezug zu unserem Re:Match Projekt von uns hergestellt wurde!

Die Linke setzt sich dafür ein, das auch nach der GEAS-Reform bestehenbleibende Dublin-System zugunsten einer solidarischen Regelung zur Verteilung Schutzsuchender in der EU zu ersetzen (s. 90). Bei der Bestimmung des Aufnahmelandes will Die Linke die berechtigten Interessen von Schutzsuchenden (z.B. Familienbindung, Sprachkenntnisse, individuelle Umstände) maßgeblich berücksichtigen. Ein Algorithmus-basiertes Matching sieht Die Linke als eine Option, um die individuellen Bedarfe von Schutzsuchenden vollumfänglich abzubilden. Die Partei weist – zu Recht! – darauf hin, dass ein solches Verfahren sicherstellen müsste, dass die erhobenen sensiblen Daten von Schutzsuchenden ausschließlich der Verteilung innerhalb der EU dienen und nicht an andere europäische Behörden weitergegeben werden dürften. Auf Nachfrage nach Partizipationsmöglichkeiten für Kommunen und Schutzsuchende in Fragen der Verteilung und Aufnahme nennt Die Linke, ähnlich der SPD und der Idee der BGP folgend, ihren Einsatz für einen EU-Fonds für Willkommenskommunen. Die Mittel aus diesem Fonds sollen nicht nur auf die Unterstützung von Geflüchteten beschränkt sein, sondern können auch allgemein für die öffentliche Daseinsvorsorge im Interesse der Kommunen genutzt werden.

Bündnis 90/Die Grünen betont, dass eine faire und verbindliche Verteilung von Schutzsuchenden notwendig ist (S. 102). An dieser sollen sich alle Mitgliedstaaten beteiligen, um die gemeinsame Herausforderung zu bewältigen. Insbesondere Staaten mit europäischen Außengrenzen seien auf diese Solidarität angewiesen – das ist auch einer der Gründe, weswegen die BGP sich entschieden hat, mit Re:Match einen Vorschlag zur Verbesserung der innereuropäischen Verteilung zu entwickeln. Auch Bündnis 90/Die Grünen möchte die Ressourcen der Länder und Kommunen über einen Matching-Mechanismus mit den Bedürfnissen der Geflüchteten in Einklang bringen und dabei etwa Familienbezüge, Sprachkenntnisse oder Berufsabschlüsse berücksichtigen. Mit Bezug auf das von uns vorgeschlagene Verfahren erkennt die Partei an, dass der Einsatz von Algorithmus-basierten Lösungen dabei eine wichtige Hilfe sein kann. Auf Nachfrage dazu, ob die Partei Schutzsuchenden und Kommunen konkrete Partizipationsmöglichkeiten in Fragen der Verteilung und Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen wird, sagt Bündnis 90/Die Grünen, den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) stärken zu wollen. Zudem weist die Partei darauf hin, dass eine europäische Vernetzung und Austausch zwischen Kommunen bei der Integration helfen kann, wie man etwa an der erfolgreichen Gründung von grenzüberschreitenden Netzwerken von Kommunen sehen könne. An der Gründung und dem Aufbau eines der europäischen kommunalen Netzwerke, der International Alliance of Safe Harbours (IASH), ist die BGP eng beteiligt.

Im Europawahlprogramm der FDP finden sich leider keine Aussagen zu innereuropäischer Solidarität und der Verteilung von Schutzsuchenden. Auf unsere Anfrage zur Beantwortung des Wahlprüfsteins hat die FDP Stand 06.06.2024 nicht reagiert.

Die Europaprogramme und Antworten der Parteien auf unsere Wahlprüfsteine zeigen, dass auch nach dem Beschluss der GEAS-Reform keine Einigkeit zu den Themen der innereuropäischen Solidarität und der Verteilung und Aufnahme von Menschen, die bei uns Schutz suchen, herrscht. Die Partizipation von Kommunen in Fragen der Verteilung und Aufnahme wollen die Parteien in erster Linie erreichen, indem sie Kommunen verstärkt finanzielle Mittel für die Aufnahme Schutzsuchender zugänglich machen. Während das ein wichtiger, überfälliger und schon lange von uns empfohlener Schritt ist, sagt diese Maßnahme wenig über die Partizipation von Kommunen in Fragen der Verteilung Schutzsuchender aus. Einen etwaigen Einsatz der Parteien für erweiterte Partizipations- und Mitsprachemöglichkeiten lässt sich höchstens aus ihrer positiven bis nicht abweisenden Einstellung gegenüber eines Matching-artigen Abgleichs von Kapazitäten und Bedarfen zwischen Kommunen und Schutzsuchenden herauslesen. Auch einen Hinweis auf Partizipations- und Mitsprachemöglichkeiten für Schutzsuchende kann man, wenn überhaupt, hieraus interpretieren. An der BGP sind wir uns bewusst, dass die Verteilung und Aufnahme Schutzsuchender Kompetenz der Mitgliedstaaten ist. Es spricht allerdings nichts dagegen, dass Mitgliedstaaten diese Kompetenz nutzen, um Kommunen und Schutzsuchende aktiv einzubeziehen und damit neue, progressive Wege zu beschreiten. Wir nennen dafür immer wieder überzeugende Argumente, die auf durch unsere Pilotprojekte generierter Evidenz und wissenschaftlicher Expertise basieren. Auch nach der Wahl am 9. Juni werden wir deswegen unsere Ideen weiterentwickeln und sie auch den neu- und wiedergewählten Parlamentarier*innen präsentieren. Unser Ziel bleibt weiterhin eine solidarische, gerechte und effektive Flucht- und Migrationspolitik in der EU und ihren Mitgliedstaaten zu erreichen.

  

* Diese Pflicht zur Solidarität bezieht sich auf den dauerhaften und verpflichtenden Solidaritätsmechanismus, welcher im Rahmen der GEAS-Reform beschlossen wurde. Mitgliedstaaten können dabei aus drei Beitragsformen wählen: der Relocation, d.h. der Übernahme von Schutzsuchenden, oder alternativen oder finanziellen Beiträgen.